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Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 01.12.2009
- 1 BvR 2857/07 und 1 BvR 2858/07 -
BVerfG: Ladenöffnung an allen vier Adventssonntagen in Berlin verfassungswidrig
Bloßes Umsatz- oder Erwerbsinteresse für Ausnahmeregelungen hinsichtlich der Öffnungszeiten nicht ausreichend
Die Regelung zu den Ladenöffnungszeiten an Adventssonntagen in Berlin ist nicht verfassungsgemäß. Sollen Geschäfte an mehreren Sonn- und Feiertagen in Folge über jeweils viele Stunden hin geöffnet werden, bedarf diese Freigabe der Ladenöffnung Gründe von besonderem Gewicht. Solche Gründe seien aber bei einer siebenstündigen Öffnung an allen vier Adventssonntagen nicht gegeben und unterschreiten das verfassungsrechtlich gebotene Mindestmaß des Sonntagsschutzes. Die Verfassungsbeschwerden der Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und des Erzbistums Berlin sind daher zulässig. Dies entschied das Bundesverfassungsgericht.
Bei der sogenannten Föderalismusreform I im Jahr 2006 wurde die Gesetzgebungskompetenz für das Recht des Ladenschlusses auf die Länder übertragen. Das Abgeordnetenhaus von
Verfassungsbeschwerden zulässig, da Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung hinreichend dargelegt wurde
Inzwischen haben alle Bundesländer bis auf den Freistaat Bayern den Ladenschluss durch Landesgesetz geregelt. Im Grundsatz sehen alle Landesgesetze vor, dass an Sonn- und Feiertagen keine Ladenöffnung erfolgt. Als Ausnahmeregelungen weisen die meisten anderen Bundesländer vier Sonn- und Feiertage zur Freigabe aus, Baden-Württemberg lediglich drei, Brandenburg hingegen sechs. Zumeist ist eine Ladenöffnung an den Adventssonntagen ausgeschlossen oder zumindest nur an einem einzigen Adventssonntag im Jahr gestattet. Neben
Öffnung an allen Adventssonntagen überschreitet verfassungsrechtlich gebotenes Mindestmaß des Sonntagsschutzes
Die in der angegriffenen Regelung vorgesehene Möglichkeit der Ladenöffnung an allen vier Adventssonntagen ist mit den Schutzpflichtanforderungen aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG in Verbindung mit Art. 140 GG und Art. 139 WRV nicht mehr in Einklang zu bringen. Das gesetzliche Schutzkonzept für die Gewährleistung der
Mindestniveau des Schutzes der Sonnt- und Feiertage ist zu gewährleisten
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
Das Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG wird in seiner Bedeutung als Schutzverpflichtung des Gesetzgebers durch den objektivrechtlichen Schutzauftrag für den
Schutzkonzept wird Grundgesetz nicht gerecht
Das Schutzkonzept, das den Regelungen zur Ladenöffnung an Sonn- und Feiertagen im Land
Allein aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG lässt sich keine staatliche Verpflichtung herleiten, die religiös-christlichen Feiertage und den Sonntag unter den Schutz einer näher auszugestaltenden generellen Arbeitsruhe zu stellen und das Verständnis bestimmter Religionsgemeinschaften von nach deren Lehre besonderen Tagen zugrunde zu legen. Das Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG erfährt aber eine Konkretisierung durch die Sonn- und Feiertagsgarantie nach Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 139 WRV; die Sonn- und Feiertagsgarantie wirkt ihrerseits als in der Verfassung getroffene Wertung auf die Auslegung und Bestimmung des Schutzgehalts von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ein und ist deshalb auch bei der Konkretisierung der grundrechtlichen Schutzpflicht des Gesetzgebers zu beachten. Art. 139 WRV enthält einen Schutzauftrag an den Gesetzgeber, der im Sinne der Gewährleistung eines Mindestschutzniveaus dem Grundrechtsschutz aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG insoweit Gehalt gibt.
Sonn- und Feiertagsgarantie soll Schutz von Ehe und Familie sowie der Erholung und Erhaltung der Gesundheit zugute kommen
Die funktionale Ausrichtung der sogenannten Weimarer Kirchenartikel auf die Inanspruchnahme des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gilt auch für die Gewährleistung der Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung in Art. 139 WRV, obgleich in dieser Norm selbst der religiös-christliche Bezug nicht ausdrücklich erwähnt wird. Denn Art. 139 WRV ist nach seiner Entstehungsgeschichte, seiner systemischen Verankerung in den sogenannten Kirchenartikeln und seinen Regelungszwecken ein religiöser, in der christlichen Tradition wurzelnder Gehalt eigen, der mit einer dezidiert sozialen, weltlich-neutral ausgerichteten Zwecksetzung einhergeht. Die Sonn- und Feiertagsgarantie fördert und schützt daher nicht nur die Ausübung der Religionsfreiheit. Die Gewährleistung der Arbeitsruhe sichert eine wesentliche Grundlage für die Rekreationsmöglichkeiten des Menschen und zugleich für ein soziales Zusammenleben und ist damit auch Garant für die Wahrnehmung von anderen Grundrechten, die der Persönlichkeitsentfaltung dienen. Die Sonn- und Feiertagsgarantie kommt etwa dem Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) ebenso zugute wie der Erholung und Erhaltung der Gesundheit (vgl. Art. 2 Abs. 2 GG). Ihre Bedeutung resultiert wesentlich auch aus dem zeitlichen Gleichklang der Arbeitsruhe. Art. 139 WRV erweist sich so als verfassungsverankertes Grundelement sozialen Zusammenlebens und staatlicher Ordnung und ist als Konnexgarantie zu verschiedenen Grundrechten zu begreifen.
Sonntag und Feiertage auch verfassungsrechtlich unter besonderen Schutzauftrag gestellt
Die Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität steht einer Konkretisierung des Schutzgehalts des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG durch Art. 139 WRV nicht entgegen. Denn die Verfassung selbst unterstellt den Sonntag und die Feiertage, soweit sie staatlich anerkannt sind, einem besonderen staatlichen Schutzauftrag und nimmt damit eine Wertung vor, die auch in der christlich-abendländischen Tradition wurzelt und kalendarisch an diese anknüpft.
Sonn- und Feiertagsruhe geht nicht allein auf religiösen Sinngehalt zurück
Art. 139 WRV statuiert für die Arbeit an Sonn- und Feiertagen unter anderem ein Regel-Ausnahme-Verhältnis. Grundsätzlich hat die typische „werktägliche Geschäftigkeit“ an Sonn- und Feiertagen zu ruhen, wobei der Schutz des Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 139 WRV nicht auf einen religiösen oder weltanschaulichen Sinngehalt der Sonn- und Feiertage beschränkt ist. Die Regelung zielt in der säkularisierten Gesellschafts- und Staatsordnung aber auch auf die Verfolgung profaner Ziele wie die der persönlichen Ruhe, Besinnung, Erholung und Zerstreuung. Dabei soll die von Art. 139 WRV ebenfalls erfasste Möglichkeit seelischer Erhebung allen Menschen unbeschadet einer religiösen Bindung zuteil werden.
Ausnahmen bei den Öffnungszeiten müssen als solche für die Öffentlichkeit erkennbar bleiben
Auf dieser Grundlage ergibt sich, dass gesetzliche Schutzkonzepte für die Gewährleistung der
Bei flächendeckender und den gesamten Einzelhandel erfassenden Freigabe der Ladenöffnung müssen rechtfertigende Gründe vorliegen
Dem Regel-Ausnahme-Gebot kommt generell umso mehr Bedeutung zu, je geringer das Gewicht derjenigen Gründe ist, zu denen der
Ladenöffnung prägt wegen öffentlicher Wirkung Charakter eines Tages in besonderer Weise
Bei der Einordnung und Bewertung der Durchbrechungen der Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen kommt der Ladenöffnung großes Gewicht zu. Das Erreichen des Ziels des Sonntagsschutzes - des religiös wie des weltlich motivierten - setzt das Ruhen der typischen werktäglichen Geschäftigkeit voraus. Gerade die Ladenöffnung prägt wegen ihrer öffentlichen Wirkung den Charakter des Tages in besonderer Weise. Von ihr geht eine für jedermann wahrnehmbare Geschäftigkeits- und Betriebsamkeitswirkung aus, die typischerweise den Werktagen zugeordnet wird. Dadurch werden notwendig auch diejenigen betroffen, die weder arbeiten müssen noch einkaufen wollen, sondern Ruhe und seelische Erhebung suchen, namentlich auch die Gläubigen christlicher Religionen und die Religionsgemeinschaften selbst, nach deren Verständnis der Tag ein solcher der Ruhe und der Besinnung ist. Dem Bedarfsdeckungs- und Versorgungsargument kommt wegen der fast vollständigen Freigabe der werktäglichen Öffnungszeiten (24-Stunden-Öffnung) in
Metropolfunktion Berlins kein ausreichender Grund für Sonderregelung
Die Besonderheit der
Umsatz- und Erwerbsinteresse rechtfertigt keine Ausnahme von der Arbeitsruhe
Die weitere Regelung, wonach die Senatsverwaltung im öffentlichen Interesse ausnahmsweise die Öffnung von Verkaufsstellen an höchstens vier (weiteren) Sonn- oder Feiertagen durch Allgemeinverfügung zulassen kann (§ 6 Abs. 1 BerlLadÖffG), ist mit dem Grundrecht der Beschwerdeführer aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG in Verbindung mit Art. 140 GG und Art. 139 WRV bei einschränkender Auslegung vereinbar. Hinsichtlich der Zahl von vier Tagen lässt sich gegen die Regelung im Blick auf die Gesamtzahl von regelhaft 52 Sonntagen im Jahr und von insgesamt neun je nicht zwingend auf einen Sonntag fallenden weiteren Feiertagen nichts erinnern, zumal bestimmte Feiertage von dieser Öffnungsmöglichkeit ausgenommen sind. Da die Freigabe zudem durch Allgemeinverfügung erfolgt, bedarf es einer Verwaltungsentscheidung, die die Möglichkeit eröffnet, die jeweils betroffenen Interessen und Rechtsgüter konkret in eine Abwägung einzubeziehen. Den verfassungsrechtlichen Bedenken gegenüber der allgemein gehaltenen Voraussetzung für die Ausnahmeregelung, dass die Öffnung „im öffentlichen Interesse“ liegt, kann durch eine die Wertung des Art. 139 WRV berücksichtigende Auslegung Rechnung getragen werden. Eine solche Auslegung verlangt ein öffentliches Interesse solchen Gewichts, das die Ausnahmen von der Arbeitsruhe rechtfertigt, wobei auch insoweit das alleinige Umsatz- und Erwerbsinteresse auf Seiten der Verkaufsstelleninhaber und das alltägliche „Shoppinginteresse“ auf der Kundenseite nicht genügt. Darüber hinaus bedürfen diese Öffnungsmöglichkeiten durch Allgemeinverfügung bei verfassungskonformer Auslegung einer uhrzeitlichen Eingrenzung, die die Vorschrift selbst nicht ausdrücklich vorsieht.
Die weiteren angegriffenen Bestimmungen, die das Schutzkonzept des Landesgesetzgebers mit Ausnahmen versehen, begegnen keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.
Adventssonntage im Jahr 2009 weiterhin verkaufsoffene Sonntage
Die Regelung zur Öffnung der Verkaufsstellen an allen vier Adventssonntagen bleibt trotz der Feststellung der Verfassungswidrigkeit unter Berücksichtigung der Berufsausübungsfreiheit der Verkaufsstelleninhaber, ihres in die Regelung gesetzten Vertrauens und der von ihnen für die Vorweihnachtszeit des Jahres 2009 getroffenen Dispositionen in diesem Jahr noch anwendbar. Ob und wie der
Die Entscheidung ist zur Beschwerdebefugnis der Religionsgemeinschaften und zur Konkretisierung des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG durch Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 139 WRV mit 5 : 3 Stimmen, hinsichtlich der Anforderungen des Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 139 WRV einstimmig ergangen.
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© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 01.12.2009
Quelle: ra-online, BVerfG
Jahrgang: 2010, Seite: 570 NVwZ 2010, 570
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Dokument-Nr. 8849
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