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Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 12.11.2019
- C-233/18 -
Gewalttätiger Flüchtling darf nicht der Aufnahmeeinrichtung verwiesen werden
Mitgliedsstaaten müssen würdigen Lebensstandard dauerhaft und ohne Unterbrechung sicherstellen
Der Gerichtshof der Europäischen Union hat entschieden, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat und sich grob gegen die Vorschriften des sie aufnehmenden Unterbringungszentrums verstößt oder sich grob gewalttätig verhält, nicht mit dem Entzug der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen in Bezug auf Unterkunft, Verpflegung oder Kleidung sanktioniert werden darf.
Herr Zubair Haqbin ist ein afghanischer Staatsangehöriger, der als unbegleiteter
Nationales Gericht erbittet Entscheidung des EuGH zur Zulässigkeit der Einschränkung und Kürzung von Maßnahmen
Das erstinstanzliche Gericht wies die Klage gegen die Ausschlussentscheidung ab. Hiergegen legte Herr Haqbin Berufung ein. Das Berufungsgericht befragte den Gerichtshof, ob die belgischen Behörden die materiellen Leistungen, die einer internationalen Schutz beantragenden Person im Rahmen der Aufnahme gewährt werden, bei einem Antragsteller wie Herrn Haqbin entziehen oder einschränken können. Im Hinblick auf dessen besondere Situation hat sich außerdem die Frage ergeben, unter welchen Voraussetzungen eine solche Sanktion gegen einen unbegleiteten Minderjährigen verhängt werden kann.
Sanktionen müssen verhältnismäßig sein und würdigen Lebensstandard belassen
Der Gerichtshof hat zunächst klargestellt, dass sich die von Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33* erfassten
Entzug sämtlicher gewährter materieller Leistungen unzulässig
Ein - selbst zeitweiliger - Entzug sämtlicher im Rahmen der Aufnahme gewährter materieller Leistungen oder der in diesem Rahmen gewährten materiellen Leistungen in Bezug auf Unterkunft, Verpflegung oder Kleidung wäre aber mit der Verpflichtung unvereinbar, einen würdigen Lebensstandard für den Antragsteller zu gewährleisten. Eine solche Sanktion würde ihm nämlich die Möglichkeit nehmen, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen. Zudem würde sie das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit verkennen.
Aushändigung einer Liste privater Obdachlosenheime nicht ausreichend
Der Gerichtshof hat weiter ausgeführt, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, einen würdigen Lebensstandard dauerhaft und ohne Unterbrechung sicherzustellen. Die für die Aufnahme von internationalen Schutzbeantragenden Personen zuständigen Behörden müssen in geordneter Weise und eigener Verantwortlichkeit einen zur Gewährleistung eines solchen Lebensstandards geeigneten Zugang zu den im Rahmen der Aufnahme gewährten Leistungen anbieten. Sie dürfen sich also nicht, wie es die zuständigen belgischen Behörden in Betracht gezogen haben, damit begnügen, dem ausgeschlossenen Antragsteller eine Liste privater Obdachlosenheime auszuhändigen, die ihn aufnehmen könnten.
Einschränkung von Geldleistungen zur Deckung des täglichen Bedarfs muss mit Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einklang stehen
Was eine Sanktion anbelangt, mit der die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen eingeschränkt werden, wie etwa der Entzug oder die Einschränkung von Geldleistungen zur Deckung des täglichen Bedarfs, so hat der Gerichtshof deutlich gemacht, dass es den zuständigen Behörden obliegt, unter allen Umständen dafür zu sorgen, dass eine solche Sanktion im Hinblick auf die besondere Situation des Antragstellers und auf sämtliche Umstände des Einzelfalls mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einklang steht und die Würde des Antragstellers nicht verletzt. Insoweit hat er darauf hingewiesen, dass die Mitgliedstaaten in den in Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 bezeichneten Fällen andere Maßnahmen vorsehen können als diejenigen, die die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen betreffen, wie etwa den Verbleib des Antragstellers in einem separaten Teil des Unterbringungszentrums oder seine Verbringung in ein anderes Unterbringungszentrum. Im Übrigen können die zuständigen Behörden entscheiden, den Antragsteller zu inhaftieren, sofern die entsprechenden Voraussetzungen der Richtlinie erfüllt sind.
Sanktionen bei unbegleiteten Minderjährigen müssen unter besonderer Berücksichtigung des Kindeswohls ergehen
Handelt es sich bei dem Antragsteller um einen unbegleiteten Minderjährigen und damit um eine schutzbedürftige Person im Sinne der Richtlinie 2013/33, haben die nationalen Behörden bei der Verhängung von
Erläuterungen
* - Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. 2013, L 180, S. 96).
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© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 14.11.2019
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online (pm/kg)
- Beteiligung an terroristischen Aktivitäten können Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling rechtfertigen
(Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 31.01.2017
[Aktenzeichen: C-573/14]) - Kürzung von Asylbewerberleistungen bei verweigerter Mitwirkung zur Passbeschaffung verfassungsgemäß
(Sozialgericht Osnabrück, Urteil vom 11.06.2019
[Aktenzeichen: S 44 AY 14/17])
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Dokument-Nr. 28089
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