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Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 11.02.2005
1 BVR 276/05 -

Vor dem Widerruf der Zulassung sind mildere anwaltsgerichte Maßnahmen zu pürfen

Die Verfassungbeschwerde eines Anwalts gegen den Widerruf seiner Zulassung hatte Erfolg. Zuvor hatte der Bundesgerichtshof, Senat für Anwaltssachen Urteil vom 02.12.2004) den Widerruf der Zulassung bestätigt.

Grund für den Widerruf der Zulassung war der Verstoß des Anwalts gegen die Kanzleipflicht. Der Widerruf der Rechtsanwaltszulassung stelle einen Eingriff in die Berufsfreiheit dar und müsse daher strengen verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen, so das Bundesverfassungsgericht. Der Widerruf dürfe daher nicht undifferenziert bei jedem Verstoß gegen die mit der Kanzleipflicht verbundenen Obliegenheiten eines Rechtsanwalts erfolgen.

Vor dem Widerruf der Zulassung sei die Möglichkeit milderer anwaltsgerichtlicher Maßnahmen zu prüfen. Der Deutsche Anwaltverein (DAV) hat hierzu folgende Stellungnahme veröffentlicht:

Stellungnahme Nr. 38/2005 des DAV (Juni 2005)

Die Verfassungsbeschwerde ist nach Auffassung des Verfassungsrechtsausschusses des DAV begründet.

1. Die Regelung über die Kanzleipflicht (§ 27 Abs. 1 BRAO) ist ein Eingriff in die freie Berufsausübung und muss deshalb mit sachgerechten und vernünftigen Erwägungen des Gemeinwohls begründet werden können. Das vom Gesetzgeber eingesetzte Mittel muss ferner geeignet und erforderlich sein, um den angestrebten Zweck zu erreichen. Auch muss bei Gesamtabwägung zwischen Eingriffsschwere und dem Gewicht der rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit noch gewahrt sein.

BVerfGE 72, 26, 30ff. hat die Kanzleipflicht zutreffend unter Hinweis auf die Befreiungsmöglichkeit nach § 29 Abs. 1 Satz 1 BRAO u.a. deshalb als verfassungsgemäß erachtet, weil Gerichte und Behörden wegen der vielfältigen Kontakte, die sich im Laufe von Verfahren ergeben, den Ort der Berufstätigkeit wissen müssten. Die Anbringung eines Praxisschildes sowie die Installation eines Telefonanschlusses seien mit keinen Schwierigkeiten verbunden und belasteten den Anwalt in aller Regel nur unerheblich (a.a.O., S. 32).

2. Die Kanzleipflicht schränkt zwar nur die Berufsausübung ein; in Verbindung mit der gesetzlich vorgesehenen Sanktion kann sie sich aber als Eingriff in die Freiheit der Berufswahl auswirken und unterliegt in-soweit strengeren verfassungsrechtlichen Anforderungen. Macht die Justizverwaltung von der Möglichkeit zum Widerruf der Zulassung nach § 14 Abs. 2 Nr. 6 i.V.m. § 35 Abs. 1 BRAO Gebrauch, erlischt nämlich die Befugnis zur Führung der Berufsbezeichnung (§ 17 Abs. 1 Satz 1 BRAO) und erfolgt die Löschung aus der Liste der Rechtsanwälte (§§ 32, 36 BRAO).

Mit der Bedeutung des Grundrechts der Berufsfreiheit und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist es daher nicht vereinbar, die Regelung über den Zulassungswiderruf undifferenziert bei jedem - auch schon geringen - Verstoß gegen die Kanzleipflicht anzuwenden. Die Zulassung darf daher nur widerrufen werden, wenn der Rechtsanwalt überhaupt keine Kanzlei im Bezirk seiner Zulassung unterhalten hat oder diese gänzlich unkenntlich und unauffindbar gewesen ist. Sie ist auch dann zu widerrufen, wenn er sich beharrlich geweigert hat, ein Praxisschild anzubringen und sich von dieser Weigerung nicht durch mildere standesrechtliche Maßnahmen (§ 114 Abs. 1 Nr. 1-3 BRAO) hat abbringen lassen (BVerfGE 72, 26, 33).

3. Die Grenze eines Verhaltens, das einen Zulassungswiderruf rechtfertigte, ist nach Überzeugung des Verfassungsrechtsausschusses noch nicht erreicht. Insofern ist zum einen von Bedeutung, dass der Beschwerdeführer seinen Kanzleisitz in der Rechtsanwaltsgesellschaft nicht freiwillig aufgegeben hat, sondern ihm der Zutritt zu dieser verwehrt wurde. Damit stellt sich die Frage, ob § 35 Abs. 1 Nr. 5 BRAO solche Fallkonstellationen überhaupt erfasst und - bejaht man dies - eine Befreiung von der Kanzleipflicht nach § 29 Abs. 1 Satz 1 BRAO zur Vermeidung von Härten für die Dauer des arbeitsgerichtlichen Verfahrens in Betracht kam. Jedenfalls kann man aus dem Vorbringen des Beschwerdeführers im Schriftsatz vom 25.09.2002, er unterhalte "subsidiär und vorsorglich" seinen Kanzleisitz an seinem Wohnsitz (vgl. Beschluss des Bayerischen Anwaltsgerichtshofs, S. 6) schließen, dass er von einem Fortbestehen seines Kanzleisitzes in der Rechtsanwaltsgesellschaft ausging. Folgt man dieser Auffassung nicht, so hätte ein - hier unterbliebener - Hinweis auf die Möglichkeit einer Befreiung bei gleichzeitiger Bestellung eines Zustellungsbevollmächtigten nach § 30 BRAO nahe gelegen.

Darüber hinaus wurde versäumt, die im Vergleich zum Zulassungswiderruf milderen anwaltsgerichtlichen Maßnahmen nach § 114 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 BRAO zur Durchsetzung der Anbringung eines üblichen Kan-zleischildes und zum Eintrag der Berufsbezeichnung im anwaltlichen Fernsprechverzeichnis zu ergreifen. Dabei kann dahinstehen, ob und ggf. in welchem Umfang den Beschwerdeführer Mitwirkungspflichten für den Nachweis der Ergreifung organisatorischer Maßnahmen zur Einrichtung einer Kanzlei treffen, welche die angesichts der Schwere und Intensität des Grundrechtseingriffs grundsätzlich umfassende Aufklärungspflicht des Gerichts zur Feststellung aller tatbestandlichen Voraussetzungen des Widerrufs der Anwaltszulassung einschränken. Denn die Auferlegung einer Geldbuße bis zu 25.000,00 € nach § 114 Abs. 1 Nr. 3 BRAO ist ein durchaus gleich geeignetes, aber milderes Mittel, um eine eventuell vorliegende Pflichtverletzung zu ahnden und den Beschwerdeführer zu berufsrechtlich korrektem Verhalten anzuhalten. Der Beschwerdeführer hat sich nicht beharrlich geweigert, ein Praxisschild anzubringen und, sofern rechtlich geboten, sich in das amtliche Telefonverzeichnis als Rechtsanwalt eintragen zu lassen.

Soweit der Bundesgerichtshof seine Entscheidung auch mit dem nicht gestellten Antrag auf Nutzungsänderung zum Betrieb einer Kanzlei im Wohngebiet begründet hat, überzeugt dies nicht. Denn es wurde in der Begründung der Entscheidung nicht dargelegt, dass dem Beschwerdeführer die Nutzung der Wohnung als Kanzlei bestandskräftig oder sofort vollziehbar untersagt worden ist.

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© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 13.06.2005
Quelle: Bericht der ra-online Redaktion

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NJW 2005, 1418
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NVwZ 2005, 1057

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