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Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 21.12.2014
L 4 KR 485/14 -

Krankenkasse muss bei Jugendlichen transportable Sauerstoffflaschen zur Mobilitätserhaltung zur Verfügung stellen

Änderung der Versorgung mit Sauerstoff würde ernstzunehmende Einschränkungen in der Lebensführung mit sich bringen

Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen hat im Eilverfahren entschieden, dass eine 16jährige Antragstellerin Anspruch auf Kostenübernahme für monatlich drei befüllte (transportable) Sauer­stoff­druck­gas­flaschen zur Erhaltung ihrer Mobilität hat.

Die 16jährige Antragstellerin des zugrunde liegenden Streitfalls lebt bei ihren Pflegeeltern und erhält Sozialhilfeleistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch. Neben einer geistigen Behinderung besteht bei ihr eine chronische Herzinsuffizienz sowie ein massiver Lungenschaden, aufgrund dessen sie Hilfe beim Atmen bedarf. Über einen Zeitraum von 12 Jahren hat die Krankenkasse ihr Flüssigsauerstoff und zusätzliche Sauerstoffdruckgasflaschen im Umfang von 12 Flaschen pro Monat bewilligt. Seit Februar 2014 hat die Krankenkasse die monatliche Versorgung mit befüllten Sauerstoffflaschen nicht mehr übernommen und als kostengünstigere Alternative stattdessen eine Druckgasfüllstation und zwei Sauerstoffflaschen zur Verfügung gestellt. Bei einem längeren Urlaub bestünde die Möglichkeit, die Flaschen durch einen gewerblichen Betrieb am Urlaubsort zu befüllen, so dass keine Einschränkung der Mobilität vorliege. Die Jugendliche führt dagegen an, dass ohne Versorgung mit weiteren - befüllten - Sauerstoffflaschen ihre Mobilität, insbesondere in Schule, Freizeit und Urlaub (z.B. Klassenfahrten und Familienausflüge) nicht mehr gewährleistet sei.

SG: Befüllen der Flaschen bei Kurzurlauben und Klassenfahrten vor Ort zumutbar

Das Sozialgericht Braunschweig hat die Entscheidung der Krankenkasse im Hinblick auf den Wirtschaftlichkeitsgrundsatz (§ 12 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - SGB V) bestätigt. Es sei von einer für den täglichen Gebrauch ausreichenden Versorgung auszugehen. Für Kurzurlaube und Klassenfahrten sei die Möglichkeit des Befüllens der Flaschen vor Ort zumutbar.

Versorgung mit Sauerstoffdruckgasflaschen stellt Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich dar

Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen hat im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes dagegen ausgeführt, dass es sich bei der Versorgung mit Sauerstoffdruckgasflaschen um ein Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich handele, das die gesetzliche Krankenkasse in diesem Fall zu gewähren habe, weil es die Auswirkungen der Behinderung im täglichen Leben beseitige bzw. mildere und damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betreffe. Hierzu zähle auch die Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraumes, wobei bei der Integration von Kindern und Jugendlichen in den Kreis Gleichaltriger eine über den Nahbereich hinausgehende Mobilität als Grundbedürfnis anerkannt sei. Hier sei es bereits ausreichend, dass durch das begehrte Hilfsmittel die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft wesentlich gefördert werde.

Sauerstoffdruckgasflaschen gewähren größere Mobilität

Das Landessozialgericht hat weiter ausgeführt, dass bei der 16jährigen Antragstellerin ein komplexes Krankheitsbild bestünde, sodass nur Kurzurlaube von drei bis vier Tagen unter Berücksichtigung ihres Allgemeinzustandes und des Wetters möglich seien. Durch die transportablen Sauerstoffdruckgasflaschen würde ihr eine größere Mobilität gewährt und Aktivitäten ermöglicht, die ihr ansonsten nicht oder nur unter erheblicher Gefährdung ihrer Gesundheit möglich wären. Dieser zusätzlich gewonnene Freiraum zähle bei der minderjährigen und schulpflichtigen Antragstellerin zu den Grundbedürfnissen. Da sie aufgrund der nicht mehr zur Verfügung gestellten Sauerstoffdruckflaschen bereits seit Februar 2014 daran gehindert sei, an Klassenfahrten teilzunehmen und entsprechende Unternehmungen mit ihren Pflegeeltern durchzuführen, lägen ernstzunehmende Einschränkungen in ihrer Lebensführung vor.

§§ 12, 30 Abs. 1 SGB V - zitiert nach juris

§ 12 Wirtschaftlichkeitsgebot

(1) Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten.

Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen.

(2) Ist für eine Leistung ein Festbetrag festgesetzt, erfüllt die Krankenkasse ihre Leistungspflicht mit dem Festbetrag.

(3) Hat die Krankenkasse Leistungen ohne Rechtsgrundlage oder entgegen geltendem Recht erbracht und hat ein Vorstandsmitglied hiervon gewusst oder hätte es hiervon wissen müssen, hat die zuständige Aufsichtsbehörde nach Anhörung des Vorstandsmitglieds den Verwaltungsrat zu veranlassen, das Vorstandsmitglied auf Ersatz des aus der Pflichtverletzung entstandenen Schadens in Anspruch zu nehmen, falls der Verwaltungsrat das Regressverfahren nicht bereits von sich aus eingeleitet hat.

§ 33 Hilfsmittel

(1) Versicherte haben Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 ausgeschlossen sind.

Der Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln zum Behinderungsausgleich hängt bei stationärer Pflege nicht davon ab, in welchem Umfang eine Teilhabe am Leben der Gemeinschaft noch möglich ist; die Pflicht der stationären Pflegeeinrichtungen zur Vorhaltung von Hilfsmitteln und Pflegehilfsmitteln, die für den üblichen Pflegebetrieb jeweils notwendig sind, bleibt hiervon unberührt.

Für nicht durch Satz 1 ausgeschlossene Hilfsmittel bleibt § 92 Abs. 1 unberührt.

Der Anspruch umfasst auch die notwendige Änderung, Instandsetzung und Ersatzbeschaffung von Hilfsmitteln, die Ausbildung in ihrem Gebrauch und, soweit zum Schutz der Versicherten vor unvertretbaren gesundheitlichen Risiken erforderlich, die nach dem Stand der Technik zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit und der technischen Sicherheit notwendigen Wartungen und technischen Kontrollen.

Wählen Versicherte Hilfsmittel oder zusätzliche Leistungen, die über das Maß des Notwendigen hinausgehen, haben sie die Mehrkosten und dadurch bedingte höhere Folgekosten selbst zu tragen.

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© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 27.02.2015
Quelle: Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen/ra-online

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Kommentare (1)

 
 
Dr. Anette Oberhauser schrieb am 10.03.2015

In dieser Entscheidung des LSG Niedersachsen-Bremen erfolgt eine Klarstellung zum umstrittenen Bezug von Hilfsmitteln nach § 33 SGB V im Rahmen des mittelbaren Behinderungsausgleichs. Ein Mittel ist in einer erweiternden Interpretation von „Behinderungsausgleich“ Hilfsmittel, wenn es die Wirkungen der Behinderung nicht nur in einem bestimmten Lebensbereich (Beruf/Gesellschaft/Freizeit), sondern im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft. Zu derartigen lebensnotwendigen Grundbedürfnissen rechnen die allgemeinen Verrichtungen des täglichen Lebens wie Gehen (auch Freizeitwege), Stehen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung, elementare Körperpflege, das selbstständige Wohnen, ferner die Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums. Freizeitwege sind Wege, die bewältigt werden müssen, um die körperlichen Vitalfunktionen aufrechtzuerhalten (kurzer Spaziergang an der frischen Luft) und um sich einen für die seelische Gesundheit elementaren geistigen Freiraum zu erschließen (zum Beispiel Gang zum Nachbarn zur Gewährleistung der Kommunikation oder zum Zeitungskiosk zur Wahrnehmung des Informationsbedürfnisses). Die im Sozial- und Medizinrecht spezialisierte Kanzlei Dr. Anette Oberhauser berät und vertritt Sie kompetent in allen Fragen des Sozialversicherungsrechts.

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