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Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 11.01.2011
- 1 BvR 3295/07 -
Transsexualität: Geschlechtsumwandlung als Voraussetzung zur Begründung einer eingetragenen Lebenspartnerschaft stellt Verstoß gegen Recht auf sexuelle Selbstbestimmung dar
Bundesverfassungsgericht erklärt Voraussetzungen für Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit gemäß des Transsexuellengesetzes verfassungswidrig
Die Voraussetzungen für die rechtliche Anerkennung von Transsexuellen nach § 8 Abs. 1 Nr. 3 und 4 Transsexuellengesetz (Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit) sind verfassungswidrig. Der Verweis auf die Eheschließung zur Absicherung einer Partnerschaft ist einer transsexuellen Person mit gleichgeschlechtlicher Orientierung, die lediglich die Voraussetzungen der Namensänderung erfüllt, nicht zumutbar. Dies entschied das Bundesverfassungsgericht
Voraussetzung einer
„Kleine Lösung“: Änderung des Vornamens, ohne vorausgehende operative geschlechtsanpassende Eingriffe
Das Transsexuellengesetz (TSG) sieht zwei Verfahren vor, die Transsexuellen das Leben im empfundenen Geschlecht ermöglichen sollen. Die so genannte „kleine Lösung“ erlaubt es, den Vornamen zu ändern, ohne dass zuvor operative geschlechtsanpassende Eingriffe stattgefunden haben müssen. Hierfür ist gemäß § 1 Abs. 1 TSG im Wesentlichen erforderlich, dass sich die Person auf Grund ihrer transsexuellen Prägung dem anderen Geschlecht als zugehörig empfindet, seit mindestens drei Jahren unter dem Zwang steht, ihren Vorstellungen entsprechend zu leben, und mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass sich ihr Zugehörigkeitsempfinden zum anderen Geschlecht nicht mehr ändern wird. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen ist durch zwei Gutachten voneinander unabhängiger Sachverständiger nachzuweisen.
„Große Lösung“: Annäherung an das Erscheinungsbild des anderen Geschlechts mittels operativer geschlechtsanpassender Eingriffe
Nur die so genannte „große Lösung“ gemäß § 8 TSG führt dagegen zur personenstandsrechtlichen Anerkennung des empfundenen Geschlechts mit der Folge, dass sich die vom Geschlecht abhängigen Rechte und Pflichten der betroffenen Person grundsätzlich nach dem neuen Geschlecht richten. Sie setzt - neben den Erfordernissen des § 1 Abs. 1 TSG - gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 3 und 4 TSG zusätzlich voraus, dass die Person dauernd fortpflanzungsunfähig ist (Nr. 3) und sich einem ihre äußeren Geschlechtsmerkmale verändernden operativen Eingriff unterzogen hat, durch den eine deutliche Annäherung an das Erscheinungsbild des anderen Geschlechts erreicht worden ist (Nr. 4). Hierfür sind bei einer Mann-zu-Frau Transsexuellen die Amputation des Penisschaftes und der Hoden sowie die operative Bildung der äußeren primären weiblichen Geschlechtsorgane erforderlich; bei Frau-zu-Mann Transsexuellen die operative Entfernung der Gebärmutter, der Eierstöcke und des Eileiters sowie oftmals eine Brustverkleinerung.
Beschwerdeführerin steht mangels erfolgter Operation nur Möglichkeit der Eheschließung offen
Die jetzt 62-jährige Beschwerdeführerin wurde mit männlichen äußeren Geschlechtsmerkmalen geboren. Sie empfindet sich jedoch als Angehörige des weiblichen Geschlechts. Als solche ist sie homosexuell orientiert und lebt in einer Partnerschaft mit einer Frau. Sie hat gemäß § 1 TSG ihren männlichen in einen weiblichen Vornamen geändert. Eine Änderung des Personenstandes („große Lösung“) erfolgte nicht, da die notwendigen operativen Eingriffe nicht vorgenommen worden waren. Ihren zusammen mit ihrer Partnerin gestellten Antrag auf Eintragung einer Lebenspartnerschaft lehnte der Standesbeamte ab, weil diese nur für zwei Beteiligte des gleichen Geschlechts eröffnet sei. Das Amtsgericht bestätigte die Entscheidung mit dem Hinweis, dass den Beteiligten nur die Möglichkeit der
Beschwerdeführerin würde durch Eheschließung rechtlich als Mann eingestuft werden
Mit ihrer im Dezember 2007 erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin im Wesentlichen eine Verletzung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts in seiner Ausprägung als Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Als empfundene Frau, die eine Frau zur Partnerin habe, wolle sie eine Lebenspartnerschaft begründen. Eine
Vorschriften aus § 8 Abs. 1 bis zum Inkrafttreten einer gesetzlichen Neuregelung nicht anwendbar
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die in § 8 Abs. 1 Nr. 3 und 4 TSG normierten Voraussetzungen der personenstandsrechtlichen Anerkennung Transsexueller zur Eingehung einer Lebenspartnerschaft mit dem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und dem Recht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 GG nicht vereinbar sind. Die Vorschriften sind bis zum Inkrafttreten einer gesetzlichen Neuregelung nicht anwendbar. Da die mittelbar auf § 8 Abs. 1 Nr. 3 und 4 TSG beruhenden fachgerichtlichen Entscheidungen die Beschwerdeführerin in ihren Grundrechten verletzen, ist der Beschluss des Kammergerichts aufgehoben und zur erneuten Entscheidung dorthin zurückverwiesen worden.
Beschwerdeführerin geht zwischenzeitlich aufgrund des Bedürfnis nach gegenseitiger Absicherung und Versorgung mit ihrer Partnerin die Ehe ein
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde: Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Dass die Beschwerdeführerin während des Verfassungsbeschwerdeverfahrens zwischenzeitlich die Ehe eingegangen ist, weil sie angesichts ihres Alters und des sich hinziehenden Verfahrens mit der rechtlichen Absicherung ihrer Partnerschaft nicht länger warten wollte, lässt ihr Rechtsschutzbedürfnis nicht entfallen. Denn ihr und ihrer Partnerin war es insoweit nicht zumutbar, ihr Bedürfnis nach gegenseitiger Absicherung und Versorgung weiter hintanzustellen. Zudem ist sie auch nach der
Verstoß gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht
Es verstößt gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht in seiner Ausprägung als Recht auf sexuelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, dass Transsexuelle mit gleichgeschlechtlicher Orientierung zur rechtlichen Absicherung ihrer Partnerschaft entweder die Ehe eingehen oder sich geschlechtsändernden und die Zeugungsunfähigkeit herbeiführenden operativen Eingriffen aussetzen müssen, um personenstandsrechtlich im empfundenen Geschlecht anerkannt zu werden und damit eine
Verfassungsrechtlich garantierter Schutz der Intimsphäre vor ungewollten Einblicken bleibt bei derzeitiger Regelung nicht gewahrt
Der Verweis auf die
Mit dem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit ist es ferner nicht vereinbar, dass Transsexuelle zur Absicherung einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft nur dann eine
Anforderungen an Nachweis für Stabilität des Empfindens von Transsexualität zu hoch und für Betroffene unzumutbar
Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, dass der Gesetzgeber beim Zugang zu einer eingetragenen Lebenspartnerschaft auch bei Transsexuellen mit homosexueller Orientierung auf das personenstandsrechtlich festgestellte Geschlecht der Partner abstellt und die personenstandsrechtliche Geschlechtsbestimmung von objektivierbaren Voraussetzungen abhängig macht, um dem Personenstand Dauerhaftigkeit und Eindeutigkeit zu verleihen und ein Auseinanderfallen von biologischer und rechtlicher Geschlechtszugehörigkeit zu vermeiden. Der Gesetzgeber kann daher - auch über die Voraussetzungen des § 1 Abs.1 TSG hinaus - näher bestimmen, wie der Nachweis der Stabilität und Irreversibilität des Empfindens und Lebens von Transsexuellen im anderen Geschlecht zu führen ist. An diesen Nachweis stellt er aber zu hohe, den Betroffenen unzumutbare Anforderungen, indem er in § 8 Abs. 1 Nr. 3 und 4 TSG von ihnen unbedingt und ausnahmslos verlangt, sich Operationen zu unterziehen, die ihre Geschlechtsmerkmale verändern und zur Zeugungsunfähigkeit führen.
Dauerhaftigkeit und Irreversibilität des empfundenen Geschlechts bei Transsexuellen lässt sich nicht am Grad der operativen Anpassung der äußeren Geschlechtsmerkmale messen
Eine geschlechtsumwandelnde Operation stellt eine massive Beeinträchtigung der von Art. 2 Abs. 2 GG geschützten körperlichen Unversehrtheit mit erheblichen gesundheitlichen Risiken und Nebenwirkungen für den Betroffenen dar. Nach dem heutigen wissenschaftlichen Kenntnisstand ist sie jedoch auch bei einer weitgehend sicheren Diagnose der
Zur personenstandsrechtlichen Anerkennung geforderte dauernde Fortpflanzungsunfähigkeit ebenfalls nicht vorrangig relevant
Gleiches gilt im Hinblick auf die in § 8 Abs. 1 Nr. 3 TSG zur personenstandsrechtlichen Anerkennung geforderte dauernde Fortpflanzungsunfähigkeit, soweit für ihre Dauerhaftigkeit operative Eingriffe zur Voraussetzung gemacht werden. Zwar verfolgt der Gesetzgeber mit dieser Voraussetzung das berechtigte Anliegen, auszuschließen, dass rechtlich dem männlichen Geschlecht zugehörige Personen Kinder gebären oder rechtlich dem weiblichen Geschlecht zugehörige Personen Kinder zeugen, weil dies dem Geschlechtsverständnis widerspräche und weitreichende Folgen für die Rechtsordnung hätte. Diese Gründe vermögen aber im Rahmen der gebotenen Abwägung die erhebliche Grundrechtsbeeinträchtigung der Betroffenen nicht zu rechtfertigen, weil dem Recht der Transsexuellen auf sexuelle Selbstbestimmung unter Wahrung ihrer körperlichen Unversehrtheit größeres Gewicht beizumessen ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Fälle des Auseinanderfallens von rechtlicher Geschlechtszuordnung und Erzeuger- beziehungsweise Gebärendenrolle angesichts der kleinen Gruppe transsexueller Menschen nur selten vorkommen werden. Zudem wird dadurch vornehmlich die Zuordnung der geborenen Kinder zu Vater und Mutter berührt. Insoweit kann aber rechtlich sichergestellt werden, dass den betroffenen Kindern trotz der rechtlichen Geschlechtsänderung eines Elternteils rechtlich immer ein Vater und eine Mutter zugewiesen bleiben beziehungsweise werden. So bestimmt § 11 TSG, dass das Verhältnis rechtlich anerkannter Transsexueller zu ihren Abkömmlingen unberührt bleibt; diese Regelung kann dahingehend ausgelegt werden, dass sie auch für diejenigen Kinder gilt, die erst nach der personenstandsrechtlichen Geschlechtsänderung eines Elternteils geboren werden.
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© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 28.01.2011
Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online
- Transsexuellengesetz: Zwang zur Ehescheidung für Transsexuelle ist verfassungswidrig
(Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 27.05.2008
[Aktenzeichen: 1 BvL 10/05]) - Regelung im Transsexuellengesetz über Verlust des geänderten Vornamens bei Eheschließung ist verfassungswidrig
(Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 06.12.2005
[Aktenzeichen: 1 BvL 3/03])
Fundierte Fachartikel zum diesem Thema beim Deutschen Anwaltsregister:
Jahrgang: 2011, Seite: 759 JuS 2011, 759 | Zeitschrift: Neue Juristische Wochenschrift (NJW)
Jahrgang: 2011, Seite: 909 NJW 2011, 909
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Dokument-Nr. 10967
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