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Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 09.12.2008
- 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08 -
BVerfG: Kürzung der "Pendlerpauschale" ist verfassungswidrig
Pauschale gilt wieder ab erstem Kilometer
Die Anfang 2007 von der Großen Koalition eingeführte Kürzung der Pendlerpauschale ist verfassungswidrig. Dies hat das Bundesverfassungsgericht entschieden. Die gekürzte Pendlerpauschale konnte seit dem 1.1.2007 erst ab dem 21. Kilometer steuermindernd geltend gemacht werden. Dies verstößt gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung.
Die Kosten für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte konnten bis zum Jahr 2006 als
Mehrere Gerichte legten dem Bundesverfassungsgericht vor
Auf die Vorlagen der Finanzgerichte Niedersachsens (Niedersächsisches Finanzgericht, Beschluss v. 27.02.2007 - 8 K 549/06 -) und des Saarlandes (Finanzgericht des Saarlandes, Beschluss v. 22.03.2007 - 2 K 2442/06 -) sowie des Bundesfinanzhofs (Bundesfinanzhof, Beschluss v. 10.01.2008 - VI R 17/07 -) entschied der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts, dass diese Neuregelungen mangels verfassungsrechtlich tragfähiger Begründung mit den Anforderungen des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG an eine folgerichtige Ausgestaltung einkommensteuerrechtlicher Belastungsentscheidungen nicht vereinbar und
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
Gleichheitssatz verletzt
1. Der allgemeine Gleichheitssatz des Grundgesetzes verlangt vom Einkommensteuergesetzgeber eine an der finanziellen Leistungsfähigkeit ausgerichtete hinreichend folgerichtige Ausgestaltung seiner Belastungsentscheidungen. Nach dem geltenden Einkommensteuerrecht wird die finanzielle Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen grundsätzlich nach der Höhe seines jährlichen Nettoeinkommens bemessen, d.h., nach der Höhe der Einnahmen abzüglich beruflich bzw. betrieblich veranlasster Aufwendungen (sog. objektives Nettoprinzip) sowie abzüglich weiterer, nicht beruflich, sondern privat veranlasster Aufwendungen, insbesondere abzüglich der Aufwendungen für das Existenzminimum des Steuerpflichtigen und seiner unterhaltsberechtigten Familienangerhörigen (sog. subjektives Nettoprinzip). Entscheidend für die steuermindernde Abzugsfähigkeit von Aufwendungen ist danach grundsätzlich deren jeweiliger Veranlassungszusammenhang.
Koalition führte sog. Werkstorprinzip ein
Die Einführung des sog. Werkstorprinzips, nach dem nicht die berufliche oder private Veranlassung von Aufwendungen, sondern allein die räumliche Entfernung einer kostenverursachenden Fahrt zum Arbeitsplatz entscheidend für Abzugsfähigkeit oder Nichtabzugsfähigkeit der Kosten ist, stellt eine singuläre Ausnahme innerhalb des geltenden Einkommensteuerrechts dar. Sie ist am Maßstab folgerichtiger Ausgestaltung einer Besteuerung nach dem Prinzip der finanziellen Leistungsfähigkeit zu beurteilen. Das Erfordernis folgerichtiger Ausgestaltung der einkommensteuerrechtlichen Belastungsentscheidungen verlangt, dass Ausnahmen von den das einfache geltende Recht beherrschenden Prinzipien hinreichend begründet sind. Als solche hinreichenden Gründe sind nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bisher außerfiskalische Förderungs- und Lenkungsziele sowie Typisierungs- und Vereinfachungserfordernisse anerkannt, nicht jedoch der rein fiskalische Zweck staatlicher Einnahmenerhöhung. Hieran hält der Zweite Senat vorliegend fest.
Neuregelung fehlt eine hinreichende sachliche Begründung
Der Neuregelung fehlt danach eine hinreichende sachliche Begründung für die Abkehr vom Veranlassungsprinzip bei der Abgrenzung der einkommensteuerrechtlichen Bemessungsgrundlage (2.). Der Gesetzgeber ist von den Anforderungen an einkommensteuerrechtliche Folgerichtigkeit auch nicht mit Blick auf die Möglichkeiten eines verfassungskonformen "Systemwechsels" oder einer neuen "Zuordnungsentscheidung" befreit (3.).
Ziel der Haushaltskonsolidierung reicht für Rechtfertigung der Neuregelung nicht aus
2. Das im Gesetzgebungsverfahren fast ausschließlich angeführte Ziel der Haushaltskonsolidierung kann trotz aller auch verfassungsrechtlichen Dringlichkeit für sich genommen die Neuregelung nicht rechtfertigen, denn es geht bei der Abgrenzung der steuerlichen Bemessungsgrundlage um die gerechte Verteilung von Steuerlasten. Hierfür kann die staatliche Einnahmenvermehrung jedoch kein Richtmaß bieten, denn diesem Ziel dient jede, auch eine willkürliche Mehrbelastung.
Förderungs- und Lenkungsziele
Förderungs- und Lenkungsziele sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur dann als Rechtfertigungsgrund für eine Steuerbelastung geeignet, wenn sie von erkennbaren Entscheidungen des Gesetzgebers getragen sind. Zwar wird eine Abschaffung der "Pendlerpauschale" von namhaften Vertretern der Wirtschafts- und Finanzwissenschaften im Interesse steuerlicher Anreize zu gesamtwirtschaftlich effizientem Verhalten der Steuerpflichtigen gefordert; der Gesetzgeber hat sich jedoch solche Ziele ausweislich der Materialien zum Gesetzgebungsverfahren zu keinem Zeitpunkt zu eigen gemacht, so dass schon aus diesem Grund eine derartige Rechtfertigung ausscheidet.
Typisierungs- und Vereinfachungszwecke sind keine ausreichende Gründe für Neuregelung
Auch Typisierungs- und Vereinfachungszwecke liefern keine tragfähige Begründung. Zwar ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber davon ausgegangen ist, dass es sich bei den Fahrtkosten um - privat und beruflich - "gemischt" veranlasste Aufwendungen handelt, für deren angemessene einkommensteuerrechtliche Bewertung und Einordnung erhebliche Typisierungs- und Vereinfachungsspielräume eröffnet sind. Es handelt sich bei der Neuregelung jedoch nicht um eine typisierende Bewertung und Erfassung des unterschiedlichen Gewichts der privaten und beruflichen Anteile an der Kostenveranlassung, sondern um eine ausschließlich quantitativ am Ergebnis eines erhöhten Steueraufkommens orientierte Tatbestandsabgrenzung. Die zusätzliche Belastung durch Wegekosten für Entfernungen bis zu 20 km kann mangels einer korrespondierenden Abstimmung der Höhe des allgemeinen Arbeitnehmer-Pauschbetrags auch nicht unter Hinweis auf diesen allgemeinen Pauschbetrag "hinwegtypisiert" werden.
Kein "befreiender" grundlegender Systemwechsel
3. Schließlich fehlt es auch an einem den Gesetzgeber "befreienden" grundlegenden Systemwechsel oder einer neuen Zuordnungsentscheidung. Die dem Steuergesetzgeber zustehende Gestaltungsfreiheit umfasst zwar von Verfassungs wegen auch die Befugnis, neue Regeln ohne Bindung durch Grundsätze der Folgerichtigkeit an frühere Grundentscheidungen einzuführen. Einen zulässigen Systemwechsel kann es jedoch ohne ein Mindestmaß an neuer Systemorientierung nicht geben. Anderenfalls ließe sich jedwede Ausnahmeregelung als (Anfang einer) Neukonzeption deklarieren. Die neuen Bestimmungen zur räumlichen Abgrenzung abzugsfähiger Wegekosten lassen eine Orientierung an einer - etwa nach und nach zu verwirklichenden - neuen Grundkonzeption nicht erkennen. Der generelle Ausschluss der Wegeaufwendungen aus dem Tatbestand der
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Zu den Anforderungen an eine folgerichtige Abgrenzung von Erwerbsaufwendungen im Einkommensteuerrecht.
© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 09.12.2008
Quelle: ra-online, Bundesverfassungsgericht
- Niedersächsisches Finanzgericht ruft Bundesverfassungsgericht wegen Pendlerpauschale an
(Niedersächsisches Finanzgericht, Beschluss vom 27.02.2007
[Aktenzeichen: 8 K 549/06]) - Finanzgericht des Saarlandes hält Kürzung der Entfernungspauschale für verfassungswidrig
(Finanzgericht des Saarlandes, Beschluss vom 22.03.2007
[Aktenzeichen: 2 K 2442/06]) - Bundesfinanzhof hält Kürzung der Pendlerpauschale für verfassungswidrig
(Bundesfinanzhof, Beschluss vom 10.01.2008
[Aktenzeichen: VI R 17/07])
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Dokument-Nr. 7109
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