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Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 19.06.2012
- 2 BvE 4/11 -
Anträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Organstreit "ESM/Euro-Plus-Pakt" erfolgreich
Bundesregierung verletzt Unterrichtungsrechte des Deutschen Bundestages
Das Bundesverfassungsgericht hat die Anträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen für begründet erachtet, mit denen die Antragstellerin eine Verletzung der Unterrichtungsrechte des Deutschen Bundestages durch die Bundesregierung im Zusammenhang mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und dem Euro-Plus-Pakt geltend macht.
Im zugrunde liegenden Fall stellte die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zwei Anträge gegen die Bundesregierung. Diese betreffen jeweils die Frage, ob die Bundesregierung in der ersten Jahreshälfte 2011 Unterrichtungspflichten aus Art. 23 Abs. 2 GG gegenüber dem Deutschen
Antragssteller rügen mangelnde Unterrichtung über Ausgestaltung des ESM
Der Antrag zu 1. zielt auf den so genannten Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). Hierbei handelt es sich um ein zwischenstaatliches Instrument der Mitgliedstaaten der Eurozone zur Bekämpfung der Staatsschuldenkrise im Gebiet der Europäischen Währungsunion. Die Antragstellerin begehrt die Feststellung, dass die Bundesregierung die Rechte des Deutschen Bundestages aus Art. 23 Abs. 2 GG verletzt hat, indem sie es unterlassen hat, unmittelbar vor und nach der Tagung des Europäischen Rates vom 4. Februar 2011 umfassend, zum frühestmöglichen Zeitpunkt und fortlaufend über die Ausgestaltung des ESM zu unterrichten und insbesondere spätestens am 6. April 2011 den Entwurf eines Vertrages über den ESM an den Deutschen
Mangelnde Unterrichtung über Ausgestaltung und Beginn des Euro-Plus-Pakts beanstandet
Der Antrag zu 2. betrifft den so genannten Euro-Plus-Pakt, der auf der Tagung des Europäischen Rates vom 4. Februar 2011 öffentlich vorgestellt wurde. Diese Abmachung, die in Deutschland zunächst auch unter dem Begriff „Pakt für Wettbewerbsfähigkeit“ diskutiert wurde, soll namentlich die Gefahr von Währungskrisen im Euro-Raum strukturell verringern. Hierfür will der Euro-Plus-Pakt unter anderem die wirtschaftliche Säule der Währungsunion stärken und „eine neue Qualität der wirtschaftspolitischen Koordinierung“ erreichen. In diesem Kontext begehrt die Antragstellerin die Feststellung, dass die Bundesregierung die Rechte des Deutschen Bundestages aus Art. 23 Abs. 2 GG verletzt hat, indem sie es vor der Tagung des Europäischen Rates am 4. Februar 2011 unterlassen hat, den
Das Organstreitverfahren sollte vor diesem Hintergrund klären, ob die Mitwirkungs- und Unterrichtungsrechte, die aus Art. 23 Abs. 2 GG dem
BverfG bejaht Verletzung der Unterrichtungspflicht seitens der Bundesregierung
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die Bundesregierung den Deutschen
Prüfungsmaßstab
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde. Art. 23 GG räumt dem Deutschen
Unterrichtung des Bundestages soll frühzeitige und effektive Einflussnahme auf Willensbildung der Bundesregierung ermöglichen
Die in Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG geregelte Pflicht der Bundesregierung, den Deutschen
Unterrichtungspflicht umfasst auch Weiterleitung amtlicher Unterlagen und Dokumente
Das Erfordernis einer umfassenden Unterrichtung ist seiner Funktion gemäß so auszulegen, dass eine umso intensivere Unterrichtung geboten ist, je komplexer ein Vorgang ist, je tiefer er in den Zuständigkeitsbereich der Legislative eingreift und je mehr er sich einer förmlichen Beschlussfassung oder Vereinbarung annähert. Daraus ergeben sich Anforderungen an die Qualität, Quantität und Aktualität der Unterrichtung. So erfasst die Pflicht zur umfassenden Unterrichtung nicht nur Initiativen und Positionen der Bundesregierung selbst sowie Gegenstand, Verlauf und Ergebnis der Sitzungen und Beratungen von Organen und Gremien der Europäischen Union, in denen die Bundesregierung vertreten ist. Die Unterrichtungspflicht erstreckt sich vielmehr auch auf die Weiterleitung amtlicher Unterlagen und Dokumente der Organe, Gremien und Behörden der Europäischen Union und anderer Mitgliedstaaten.
Zeitpunkt der Unterrichtung bedeutsam
Dem Zeitpunkt der Unterrichtung kommt eine ihrem Umfang gleichrangige Bedeutung zu. Die in Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG genannte Zeitvorgabe „zum frühestmöglichen Zeitpunkt“ ist dahin auszulegen, dass der
Unterrichtung des Bundestages muss schriftlich erfolgen
Die Unterrichtung hat angesichts der Anforderungen an ihre Klarheit, Verstetigung und Reproduzierbarkeit grundsätzlich schriftlich zu erfolgen. Ausnahmen sind nur in engen Grenzen zulässig, unter Umständen aber auch geboten, wenn die Bundesregierung eine umfassende und zugleich frühestmögliche Unterrichtung nur mündlich sicherstellen kann.
Grenzen der Unterrichtungspflicht
Grenzen der Unterrichtungspflicht ergeben sich aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung. Innerhalb der Funktionenordnung des Grundgesetzes kommt der Regierung ein Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung zu, der einen grundsätzlich nicht ausforschbaren Initiativ-, Beratungs- und Handlungsbereich einschließt. Solange die interne Willensbildung der Bundesregierung nicht abgeschlossen ist, besteht kein Anspruch des Parlaments auf Unterrichtung. Wenn die Bundesregierung indes ihre Willensbildung selbst so weit konkretisiert hat, dass sie Zwischen- oder Teilergebnisse an die Öffentlichkeit geben kann oder mit einer eigenen Position in einen Abstimmungsprozess mit Dritten eintreten will, fällt ein Vorhaben nicht mehr in den gegenüber dem
Nach diesen Maßstäben sind die Anträge begründet. Die Bundesregierung hat den
Errichtung und Ausgestaltung des Europäischen Stabilitätsmechanismus sind eine Angelegenheit der Europäischen Union im Sinne des Art. 23 Abs. 2 Satz 1 GG, weil die ihn prägenden Charakteristika in ihrer Gesamtschau substantielle Berührungspunkte mit dem Integrationsprogramm der Europäischen Verträge aufweisen. So soll die Gründung des Europäischen Stabilitätsmechanismus durch eine Änderung des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union abgesichert werden. Des Weiteren weist der zu seiner Errichtung zu schließende Vertrag den Organen der Europäischen Union, insbesondere der Europäischen Kommission und dem Europäischen Gerichtshof, neue Zuständigkeiten hinsichtlich der Ermittlung, Durchführung und Überwachung des Finanzierungsprogramms zugunsten hilfsbedürftiger Mitgliedstaaten zu. Darüber hinaus soll der Europäische Stabilitätsmechanismus der Ergänzung und Absicherung der Wirtschafts- und Währungspolitik dienen, die der Europäischen Union als ausschließliche Zuständigkeit zugewiesen ist. Dass der Europäische Stabilitätsmechanismus im Wege eines gesonderten völkerrechtlichen Vertrags außerhalb der bisherigen Struktur des Unionsrechts etabliert werden soll, stellt seine Zuordnung zu dem in den Verträgen über die Europäische Union und über die Arbeitsweise der Europäischen Union niedergelegten Integrationsprogramm nicht in Frage. Aufgrund der Verflechtung mit supranationalen Elementen besitzt der Europäische Stabilitätsmechanismus eine hybride Natur, die ihn zu einer Angelegenheit der Europäischen Union macht.
Bundesregierung muss vorliegende Zwischenergebnisse und Textstufen übermitteln, nicht nur abschließende Vertragstexte
Die Bundesregierung hat es unterlassen, dem Deutschen
Bundestag nicht ausreichend über Euro-Plus-Pakt informiert
Die Bundesregierung hat die Rechte des Bundestages aus Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG auch dadurch verletzt, dass sie ihn nicht umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt über den Euro-Plus-Pakt unterrichtet hat. Auch die Vereinbarung des Euro-Plus-Paktes stellt aufgrund ihrer spezifischen Ausrichtung auf das unionale Integrationsprogramm eine Angelegenheit der Europäischen Union im Sinne des Art. 23 Abs. 2 Satz 1 GG dar. Der Euro-Plus-Pakt richtet sich an die Mitgliedstaaten der Europäischen Union und ist angesichts seiner Ziele, eine qualitative Verbesserung der Wirtschaftspolitik und der öffentlichen Haushaltslage sowie eine Stärkung der Finanzstabilität zu erreichen, inhaltlich auf einen in den Verträgen niedergelegten Politikbereich der Europäischen Union ausgerichtet. In die Verwirklichung der Ziele des Paktes sind Organe der Europäischen Union eingeschaltet. Dass der Euro-Plus-Pakt überwiegend mit Selbstverpflichtungen der teilnehmenden Mitgliedstaaten operiert, stellt seine Einordnung als Angelegenheit der Europäischen Union nicht in Frage.
Der Euro-Plus-Pakt berührt wichtige Funktionen des Deutschen Bundestages. Namentlich die Selbstverpflichtungen in Bereichen, die der Gesetzgebungszuständigkeit der Mitgliedstaaten unterfallen, wie etwa dem Steuer- und Sozialrecht, und in denen der Gesetzgeber in Zukunft einer Überwachung durch Organe der Europäischen Union unterworfen wird, betreffen die parlamentarische Verantwortung und sind geeignet, die Gestaltungsmöglichkeiten des Gesetzgebers einzuschränken. Daher war in besonderem Maße dessen umfassende und frühzeitige Unterrichtung geboten.
Dieser Verpflichtung ist die Bundesregierung nicht nachgekommen. Zum einen hat sie den Deutschen
Bundestag wurde wichtiges inoffizielles Dokument zum Euro-Plus-Pakt vorenthalten
Darüber hinaus hat die Bundesregierung dem Deutschen
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© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 19.06.2012
Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online
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Dokument-Nr. 13652
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